Ultima Ratio
Eine Software zum Umgang mit Ambivalenzen und ihr Einsatz im Theater
Daniela Alina Plewe
2000
 

Ultima Ratio ist eine interaktive Installation, die Konflikte aus Leben und Literatur mit Hilfe einer Software inszeniert. Dazu werden die Konflikte und Dilemmas auf logische Formeln reduziert, so daß ein System zur Findung von rationalen Entscheidungen (Decision Support System) aus der Künstliche-Intelligenz-Forschung sie auswerten und mit ihnen schlußfolgern kann.

Alle logischen Abläufe werden in Echtzeit als abtrakte 3D Diagramme visualisiert und auf eine runde Scheibe über den Betrachter projiziert. Die Besucher der interaktiven Installation haben die Wahl zwischen mehreren Funktionen, die unseren Umgang mit Ambivalenz thematisieren – und die Rationalität an die Grenze des unendlichen Zweifels, der Entscheidungslosigkeit und des Wahnsinns bringen.
 

1. SOFTWARE UND INTERAKTIVE INSTALLATION

Ambivalenz

Oft sind es Dilemmas, Paradoxa oder andere Arten von Ambivalenz, denen wir in Kunstwerken begegnen. Aus der Literatur kennen wir den Helden in einer ausweglosen Situation, der seine tragische Entscheidung fällt. Die Software von Ultima Ratio stellt Ambivalenzen und Widersprüche als Argumentationen dar. Dazu werden die verwendeten (natürlichsprachlichen) Argumente formalisiert, d.h. als logische Regeln (wenn dies- und keine Ausnahme-, dann  das) notiert. Wie in einem Disput können die Argumente aneinandergereiht werden, z. B. zu einem Pro- und einem Kontra- Strang, die zu einander widersprechenden Konklusionen führen.

Formalisierte Konflikte

In der Datenbank von Ultima Ratio sind zunächst einige (überwiegend) dramatische Konflikte gespeichert, die das Publikum um neue Argumente, Gegenargumente und Ausnahmen erweitern kann. Damit nicht nur Einträge in der verwendeten Programmiersprache (Prolog, siehe Beispiel) möglich sind, bringt ein internes Übersetzungsprogramm auch einfache natürlichsprachliche Sätze in die logische Form.

Obwohl das Programm - anders als die klassiche Logik – auch Ausnahmen, unsichere und widersprüchliche Informationen erlaubt, macht das Publikum die mitunter schmerzhafte Erfahrung des Formalisierens wenn es die Datenbank erweitert: die Sicht auf die Dinge (was ist der Konflikt, wie kommt es dazu, was sind versteckte Annahmen, aus denen sich z.B. eine umstrittene Konklusion ableiten läßt) muß „expliziert “, logisch strukturiert und eingegeben werden. Dieser Vorgang der Interpretation, Desambiguierung und Explikation von Intuitionen ist für den hier verwendeten Ansatz von Künstlicher Intelligenz (nämlich auf symbolischer Logik basierend) paradigmatisch, verrät jedoch auch im allgemeinen, wie der Mensch sein Wissen zur Bewältigung des Lebens an die Maschinen vererbt.

Auch wenn die Methoden der Künstliche-Intellgienz-Forschung verwendet werden und zugleich ihr (partielles) Scheitern vorgeführt wird, so steht nicht die Simulation kognitiver Fähigkeiten des Menschens im Zentrum. Die hier verwendete Art der expliziten (und nicht etwa emergenten) Wissensrepräsentation soll den Besucher zur Introspektion und zur Reflektion seiner Methoden und damit seiner Kultur verführen.
 

Entscheiden

Um die Fülle der widersprüchlichen und unsicheren Daten auszuwerten, sind im logischen Kern von Ultima Ratio einige Prinzipien der menschlichen Entscheidungsfindung (als Ableitungsregeln) implementiert :

- sichere Informationen (Fakten) gelten mehr als unsichere (Annahmen )
- angefochtenen Informationen sollen keine Schlußfolgerungen gezogen werden
- angefochtene Informationen sind solche, von denen das Gegenteil bekannt ist
- eine explizite Negation (wissen, dass nicht..) ist bedeutsamer als eine implizite (nicht wissen, dass..).
-  etc.
Entscheidungen fällt das System indirekt, indem es die am wenigsten in Zweifel gezogene  Argumentation ermittelt, die zur beabsichtigten Konklusion führt.
 

Funktionen

Diese «rationalen Maschine “ bietet die Grundlage für die verschiedenen Funktionen und sog. Dysfunktionen des Programms zwischen denen der User wählen kann. Dabei  sollen sich dieFunktionen, ähnlich wie die Farben eines Bildes, gegenseitig – und den Umgang mit Ambivalenz - kommentieren.
 

Cascades of  Doubt - Struggling Agents
rekonstruiert Konflikte aus der Innensicht eines Individuums. Die inneren Monologe der Helden ( in der Logik dargestellt als «Agenten “) werden vorgeführt. Mit change agent können die Benutzer die Charaktere beeinflussen, indem sie die Regeln und Annahmen ändern, von denen der Held ausgeht. Change world verändert die Fakten, aus denen das Programm ableitet, und generiert logische Alternativen zu den Original-Szenarien. Remove conflict liefert Vorschläge, wie manche Konflikte vermieden werden können, indem andere Annahmen über die Welt als wahr gelten.

War of Convictions - Arguments as Forces

führt die ziwschen den den Wissenseinheiten (z.B.zwei sich widersprechende Konklusionen) herrschenden Kräfte vor. Der Besucher wählt einen Konflikt aus der Datenbank, das System liefert ihm die dazugehörigen Argumente.

Diese Funktion ist erweiterbar zu einem Multi-Agenten-Szenario, in dem Agenten miteinander verhandeln bzw. Konflikte an streitbare Agenten delegiert werden können.

Crossovers - Tracing Motifs

verbindet verschiedene Szenarien durch ihre dramaturgischen Motive. Wenn Regeln in mehreren Kontexten auftreten, stellt das System zwischen ihnen eine Verbindung her und erzeugt synthetische Charaktere. So kann die Rache-Regel von "Hamlet" zu "Medea" führen, wo ebenso wie in „Casablanca “ eine Nebenbuhler-Regel gilt.
 

Dysfunktionale Modes

Nachdem mit diesen Funktionen eine Bildsprache eingeführt worden ist, bei der jedem logischen Schritt ein visuelles Pendant zugeordnet wurde, können nun Bilder geschaffen werden, die über die hier verwendete Logik, d.h. den implementierten Begriff von Rationalität, hinaus gehen und trotzdem eine Art logische Semantik haben.

Reasoning Running Wild - Counterarguments forever everywhere

zeigt die Allgegenwart von möglichen Zweifeln. Alle dargestellten Argumentketten werden ins Unendliche verlängert. Hier zeigt die Visualisierung mögliche Gegeneinwände, die nicht in der Datenbasis vorhanden sind.

Inversions - Negations with Negations

negiert alle Fakten, Annahmen und Regeln, damit der Besucher die Maschine in einer Welt, die nicht der Fall ist, schlussfolgern lassen kann. (Umfasst das Komplement einer logischen Ableitung auch das Irrationale ? ) Das Ergebnis ist logischer Surrealismus.
 
Modelling Virtues - Modifying Tools of Life
modelliert und variiert Tugenden in der rationalen Maschine, z.B. courage = live wrong; wa szunächst als nicht folgerichtig erscheint, wird nachträglich zum Folgerichtigen. Für Befindlichkeiten wie z.B. despair = navigation in a reluctant environment sorgt die Gestaltung der Interaktion.
 

Visualisierung

Alle Funtkionen werden mit Hilfe von 3-D Diagramme in einem virtuellen Raum visualisiert. Argumente erscheinen als fragile, abstrakte Gebilde, in denen sich Prämissen und Konklusionen als geometrische Formen aufbauen. Balance, Gravitation und andere Effekte zeigen die Dynamik von Argument und Gegenargument. Dem Schlußfolgern entspricht eine Bewegung durch den virtuellen Raum, wobei der Benutzer entweder dem Autopiloten folgt, oder selbst navigiert.

Interaktive Installation

In der interaktiven Installation tritt der Besucher unter eine große, runde Scheibe, auf die von oben projiziert wird. Ein Eyetracker (oder ein Headtracker) verfolgt die die Bewegungen des Betrachters, und verzerrt die Bilder perspektisch je nach dem Standpunkt des Betrachters.Über Joystick und Tastatur (ersetzbar durch eine akustische Spracherkennung ) interagiert der Besucher mit dem System.
 
  Beispiel Hamlet Soll Hamlet Claudius töten? Ja, denn er will sich an Claudius rächen, der seinen Vater ermordet hat. Nein, denn er glaubt, daß jemand, der gerade betet und in diesem Moment getötet wird, in den Himmel kommt. Fakt: Claudius betet. Also nicht töten. Was, wenn Hamlet einen atheistischen Zweifel (Himmel?) in sich hört? Dann doch töten...
 
 
 

2. MEDIALES THEATER JENSEITS VON BEWEGTER HAUT

 
Statt als interaktive Installation kann Ultima Ratio auch in einem medial unterstützten Theater eingesetzt werden. Allein die Erstellung und Handhabung des logischen Materials eröffnet viele Möglichkeiten: die logischen Rekonstruktionen (der inszenierten Konflikte) können vom Regisseur, den Schauspielern, vom Publikum, womöglich online und in Echtzeit eingegeben und verändert werden.
 

Theater - jenseits von bewegter Haut

Klassische „behaviouristische “ Medien, wie es der Film, aber auch das Theater sind, vermitteln sich durch die Bewegung von Materie bzw. von Oberflächen. Schauspieler bewegen sich, verändern Position, Form und Oberfläche ihres Körpers, um z.B. einen Seelenkampf darzustellen.
Mit den neuen Medien und dem auf ihre Art erschlossenen virtuellen Raum kann das Problem der Darstellung der inneren Bilder erneut angegangen werden: mit der Funktion Cascades of Doubt z.B. liesse sich der innere Zwist eines Helden nach aussen bringen, u.U. auf das Bühnenbild projiziert. Jenseits der bewegten Haut gäbe es dann ein weiteres Medium zur Gestaltung von kognitiven und emotionalen Zuständen.
 

Möglichkeitsraum
Mit Change Agent und Change World können die Stücke variiert werden. Dabei tauchen Fragen rund um die Identität von Personen auf. Wäre eine Person noch dieselbe, wenn sie sich anders entschieden hätte, oder in einer anderen Welt leben würde...?
Was würde das für das Verständis von Schauspieler, dargestellter Figur, Projektion des Publikums ergeben. Muss ein Schauspieler nicht nur eine Person verkörpern, sondern deren (nichtlineares) Möglichkeitspektrum, deren Präferenzen und Potential ?

Freeze
In diesen Möglichkeitsräumen müsste auch die Zeit neu gestaltet und inszeniert werden. Mit Cascades of Doubt z.B. kann ein irrealer Stillstand inszeniert werden : aussen freeze, innen action.  Um diesen Stillstand zu vermeiden, könnte man dynamich in Ultima Ratio ständig neue Fakten und Annahmen eingeben, dann die Maschine anwerfen und womöglich nie die Konklusionen abwarten, da bereits neue Daten neue Anfragen ausgelöst hätten...
 

Motivfolgen
Mit War of Convictions werden Theaterstoffe als Gesinnungskämpfe aufgefaßt. Hier und bei Crossovers generiert das Programm aus mehreren Stücken jeweils einen neuen Kontext. Mit Crossovers druchquert das Publikum –bei entsprechender Datenbasis- das Theaterrepertoire auf einem automatisch generierten Pfad. Mit Modifying Tools of Life gelangt man zu einer von einzelnen Figuren abstrahierten Dramatik.
 
 

Zwischen Schweigen und Schrei
Schweigen und Schrei markieren zwei Extreme der menschlichen Kommunikation. Der Funktion Reasoning Running Wild kann für die Bühne erlaubt werden, jederzeit in Kraft zu treten und ihren allgegenwärtigen Zweifel zu installieren.
 

Der Weisheit letzter Schluss
Den  Menschen zwingt die Zeit mit ihrer Verpflichtung zu handeln, das Raisonnieren zugunsten einer Entscheidung abzubrechen. Ein Computer-Programm dagegen kann mit der Verfeinerung des Wissens die Ultima Ratio immer weiter treiben....
 
 
 

Hamlet  Act 3, Scene 3

Hamlet. [approaches the entry to the lobby]
Now might I do it pat, now a' is  a-praying -
    Fact: praying(claudius)

And now I do 't, [he draws his sword] and so a' goes to heaven,
    Rule: in_heaven(Y)  <- kills(X,Y), praying (Y)

And so am I revenged. That would be scanned:
    Rule: take_revenge_on(X,Y) <- kills(X,Y)

A villain kills my father, and for that
    Fact: killed(claudius,king)

I his sole son do this same villain send To heaven...
Why, this is bait and salary, not revenge.
    Rule: - take_revenge_on(X,Y) <- in_heaven(Y)

X wants to take revenge on Y if Y killed a person Z being close to X, and the killing is not justified.
    Rule: goal_revenge(X,Y), <-
                 close(X,Z,), killed(Y,Z), not justified (killed(Y,Z))

Hamlet and his father are close to each other.
    Fact: close(hamlet, king)

There is a conflict, if somebody wants to take revenge and can't.
      Conflict: + <- goal_revenge(X,Y), not take_revenge_on(X,Y)

Hamlet killing Claudius is assumed false, but this may be changed in the mode „remove conflict“.
      Assumption: revisable(kills(hamlet,claudius),false).