Hamlet, der Zauderer. Soll er den Konig, Claudius, der seinen Vater ermordet, seine Mutter geheiratet und so den Thron Danemarks an sich gerissen hat-- soll Hamlet diesen Claudius toten? Das Geheis seines Vaters, der ihm als Geist erscheint, ist eindeutig. Ebenso das Gebot der Rache. Aber Shakespeares Drama biegt, wie Carl Schmitt formulierte, die >>Figur des Rachers zu einem durch Reflexionen gehemmten Melancholiker<< um.
Am Ende gibt es der Leichen genug. Neun Tote insgesamt (Hamlets Vater
eingerechnet). Vier davon allein im Schlusbild (V.2), von dem berichtet
wird, das dessen einzig noch mogliche letzte Regieanweisung: Exeunt,
bearing off the bodies, die Lieblingszeile eines Alan Turing gewesen
sei. Turings eigene Erfindung, das Grundprinzip aller heutigen Computer,
erfolgte im Zeichen
Hamlets. Von Planen, >>zuruckgefallen/
Auf der Erfinder Haupt<<, ist dort zuletzt die
Rede. Oder vorher schon (III.4): >>Denn welche Lust,
mit eigene r Petarde/ Den Ingenieur bedrohn...<<
Liegt es also, bevor auf Turings Erfindung zuruckzukommen sein wird, in
der Konsequenz von Hamlets Zaudern und Zogern und Zweifeln, das seine Tragodie
diese Tragodie ergibt? Und was hatte ein halbes Jahrhundert nach
Turing, vier Jahrhunderte nach Shakespeare eine multimediale Installation
von heute: ULTIMA RATIO damit zu tun?
Wie jeder wirkliche Melancholiker reflektiert Hamlet den Urgrund seines Wesens selbst (IV.4):
Was ist der Mensch,
Wenn seiner Zeit Gewinn, sein hochstes Gut
Nur Schlaf und Essen ist? Ein Vieh nichts weiter.
(Und tatsachlich: Genauso hat Turing einmal gefragt, was ein Mensch
wohl sei, solange ihm weiter nichts widerfahren ware, als vom Saugling
mit unorganisierter Groshirnrinde zum Erwachsenen mit Universalmaschinengehirn
herangewachsen zu sein? Eine >>Kreatur<<,
nicht mehr, die >>keinen gesunden Menschenverstand<<
besase und selbst >>die lacherlichsten Befehle unerschrocken<<
ausfuhren wurde, um anschliesend >>in einen komaahnlichen
Zustand<< zu fallen oder >>einige
Standardroutinen [zu] befolgen, wie etwa die zu essen<<.
Weshalb schon Shakespeare Hamlet fortfahren last:)
Gewis, der uns mit solcher Denkkraft schuf,
Voraus zu schaun und ruckwarts, gab uns nicht
Die Fahigkeit und gottliche Vernunft,
Um ungebraucht in uns zu schimmeln. Nun,
Sei's viehisches Vergessen, oder sei's
Ein banger Zweifel, welcher zu genau
Bedenkt den Ausgang-- ..... --ich weis nicht,
Weswegen ich noch lebe, um zu sagen:
>>Dies mus geschehn<<, da ich doch Grund und Willen
Und Kraft und Mittel hab', um es zu tun.
Hatte Hamlet nur unverzuglich gehandelt, ware gewis vieles anders
gekommen. Doch Hamlet hat Grunde, den Rache, den Mordbefehl des Gespensts,
das ihm als sein Vater erscheint, hinauszuzogern.
Zum einen gilt es zu testen, ob nicht ein boser Geist nur seinen Schabernack
mit ihm treibt, ob also der Vorwurf gegen Claudius der Wahrheit entspricht.
Dazu inszeniert Hamlet das beruhmte Spiel im Spiel: Spiegel des Verbrechens
im Medium, das damals als >>der Spiegel und die abgekurzte
Chronik des Zeitalters<< galt, >>the
mirror up to nature<<, >>abstract
of the time<<.
Zum anderen last oder lies Claudius sich zwar auf diese Weise der Tat
uberfuhren, aber wie jedes Verbrechen bedarf auch dessen Ahndung nicht
nur des Motivs, sondern zugleich der Gelegenheit. Deren erste erweist sich
indes als genaue Inversion der Mordszene. Jemanden toten, hies damals noch,
ihn in den Himmel oder die Holle zu befordern, und letzteres ist die besondere
Tragik des einstigen Konigs von Danemark, des Vaters von Hamlet. Es hat
ihn, konnte man sagen, kalt erwischt (I.5): >>Ohn'
Abendmahl und ohne Vorbereitun g/ Ohn' Abschlus hingesandt zur Rechenschaft,/
Mit allen meinen Sunden auf dem Haupt.<< Wie
konnte da fur Rache gelten, wenn Hamlet nun den Morder ausgerechnet in
gerade der umgekehrten Situation zu Tode brachte? >>Jetzt
konnt' ich's tun, bequem<<, sieht Hamlet, da
Claudius allein ist, die Gelegenheit gekommen. Jedoch, >>er
ist am Beten<< (III.3):
Jetzt konnt' ich's thun, bequem, jetzt da er betet,
Drum will ich's thun; und so fahrt er zum Himmel!
Und so bin ich geracht? Das heischt Erwagung:
Ein Schurke mordet meinen Vater, und
Dafur schick' ich, sein einzger Sohn, den Schurken
Zum Himmel.
Nein das ist Sold und Lohn ist keine Rache.
Hamlet zogert also gerade im Auftrag der Rache. Seine Bedachtsamkeit
hat die Vernunft auf ihrer Seite, genauso wie er in deren Namen den ganz
und gar Unvernunftigen, den Verruckten spielt. >>Das
ich in keiner wahren Tollheit bin,/ Nur toll aus List<<
(III.4), erklart er selbst; beinahe sprichwortlichist die Diagnose Polonius'
geworden (II.2): >>Ist dies schon Tollheit, hat es
doch Methode.<<
Wie aber, wenn dennoch--The time is out of joint--eine noch und
zumal von dieser Vernunft nicht geahnte Verrucktheit am Werk sein sollte?
Und wenn es von daher unaufhaltsam ware, wie das Geschehen entgleist?
ULTIMA RATIO stellt beide Seiten, die Vernunft wie ihren Wahn, auf
die Probe. Daniela Alina Plewes Installation realisiert damit die Kunst
als-- wie Nelson Goodman es nannte-->>kognitive Erfahrung<<.
Ihr Herzstuck ist ein Cognitive Science-Produkt der KI-Forschung, ein sogenanntes
Decision Support-System, das etwa jenen Monolog Hamlets auf seine logischen
Implikate hin untersucht:
Now might I do it pat, now a' is a-praying--FACT: PRAYING(CLAUDIUS)
And now I do 't and so a' goes to heaven,RULE: IN_HEAVEN(Y) <- KILLS(X,Y), PRAYING (Y)
And so am I revenged. That would be scanned:RULE: TAKE_REVENGE_ON(X,Y) <- KILLS(X,Y)
A villain kills my father, and for thatFACT: KILLED(CLAUDIUS,KING)
I his sole son do this same villain send
To heaven...
Why, this is bait and salary, not revenge.RULE: - TAKE_REVENGE_ON(X,Y) <-IN_HEAVEN(Y)
Auch der Computer kommt so zu dem Ergebnis, das Rachemotiv und Rachegelegenheit
sich in dieser Situation widersprechen.
CONFLICT: * <--GOAL_REVENGE(X,Y), NOT TAKE_REVENGE_ON(X,Y)
Aber so gleich das Ergebnis ist, so verschieden ist doch, wie es
erreicht wird. Die Logik erscheint als dieselbe. Lediglich der Formalismus,
den die Maschine verwendet, tritt in einer Durftigkeit entgegen, der seiner
Bezeichnugn als >>abstract<<
unmittelbar Plausibilitat beschert. Doch ULTIMA RATIO ist daruber hinaus
auch >>abstract<< in jenem
Sinn, in dem bei Shakespeare vom Theater die Rede ist: >>abstract
of the time<<. Nicht die Formalisierung allein
macht den Unterschied. Diese wird im Gegenteil mehr als aufgewogen durch
multimediale Spekularitat. Fur den Rezipienten wird der Schematismus dieser
maschinellen Vernunft gar nicht unbedingt durchschaubar. Statt dessen umgeben
ihn die Stimmen eines text-to-speech- synthetisierten Chors, der im akustisch
Realen vortragt, was an Vernunftgrunden geltend gemacht werden kann. Deren
Verkettung wird auserdem durch die Knoten und Kanten des ihnen entsprechenden
Netzes (berechnet als 3-D-Simulation) visualisiert. Zu sehen ist dazu der
Originaltext, und nicht nur der Text, sondern auch noch Kenneth Branaghs
Hamlet-Verfilmung, die beides zeigt: Hamlet, der es unterlast, den beten
den Claudius zu toten, und Hamlet, der doch die Gelegenheit nutzt. Ferner
gibt es Ausschnitte aus anderen Filmen, Casablanca wie Robocop.
Und an literaturgeschichtlichem Material beschrankt sich ULTIMA RATIO nicht
auf
Hamlet allein. Auch Medea, die Nibelungen und
Don Juan amplifizieren die Demonstration. >>Asthetische
Erfahrung<<, schreibt Plewe dazu, >>ist
oftmals die Erfahrung von Widerspruchen. Es sind Dilemmata, Paradoxa oder
andere Arten von Ambivalenz, denen wir in Kunstwerken begegnen. Aus der
Literatur kennen wir die Figur des Helden, der in einer aporetischen Situation
seine tragische Entscheidung zu fallen hat.<<
Das ist die Datenbank von ULTIMA RATIO. Cinemathek und Literaturarchiv.
Uber diesen leistet die Installation die Arbeit der Abstraktion, indem
sie die Gemeinsamkeit all dieser alten und neuen Mythen auf ihren logischen
Kern reduziert. Zugleich prasentiert sie indes ein >>abstract<<
der Gegenwart durch ihre gegenlaufige Einkleidung in die Schleier der aktuellen
Medienkunst. Mindestens ebenso wie Shakespeares Hamlet adaptiert
sie damit Heiner Mullers Hamletmaschine.
>>Ich glaube, mein starkster Impuls ist der, Dinge
bis auf ihr Skelett zu reduzieren<<, hat Muller
im Nachhinein daruber Auskunft gegeben. >>Ich bin
nicht Hamlet... Ich bin die Schreibmaschine... Ich futtere mit meinen Daten
die Computer... Ich bin die Datenbank... Meine Gedanken sind Wunden in
meinem Gehirn. Mein Gehirn ist eine Narbe. Ich will eine Maschine sein<<--so
der Dramentext selber. >>Mich interessierte eine Variante<<,
so dann noch einmal spater wiederum Muller.
Alternativen auszutesten ist aber gerade das Angebot sogenannter interaktiver
Kunst. Hamlet zogert, Claudius im Augenblick vermeintlicher Nahe zum Himmel
ebendahin zu befordern. Wenn nun aber die Moglichkeit bestunde, Hamlet
denken zu lassen, das gar kein Himmel existiert? There is no heaven.
Hamlet, der Zweifler, wurde auf diese Weise--noch mehr in Zweifel gesturzt,
und genau diesen Spielraum eroffnet ULTIMA RATIO: >>Mit
change
agent konnen die Benutzer die Charaktere beeinflussen, indem sie die
Regeln und Annahmen andern, an die der Held glaubt. Change world
verandert die Fakten, aus denen das Programm ableitet, und generiert logische
Alternativen zu den Original-Szenarien. Remove conflict liefert
Vorschlage, wie manche Konflikte vermieden werden konnen, indem andere
Annahmen uber die Welt als wahr gelten.<<
Uberhaupt stellt die Arbeit--einmal mehr--den Betrachter scheinbar
unumschrankt in den Mittelpunkt. Denn interaktiv ist ULTIMA RATIO auch
darin, das sich die Perzeption je aktuell von dessen Blick her bestimmt.
>>Ein Eye- bzw. Head-Tracker<<,
erklart Plewe, >>registriert die Blickrichtungen des
Betrachters. Die Software errechnet den sich bewegenden Fluchtpunkt und
verzerrt demnach die Visualisierungen perspektivisch. So wird der Betrachter
ganz zum egozentrischen Subjekt, wobei die Gerichtetheit seines Blicks
(Kopfs) fur die Intentionalitat des Denkens steht<<:
Erstaunliche >>Intentionalitat<<,
der eine Maschine entgegenkommt.
Immerhin mus man sich fragen, was einen Hamlet heist, sich zu fragen: >>Seyn oder nicht seyn...<<
To be, or not to be, that is the question: --
Whether 'tis nobler in the mind, to suffer
The slings and arrows of outrageous fortune;
Or to take arms against a sea of troubles,
And, by opposing, end them? --To die, --tosleep, --
Lange Zeit hat man diesen beruhmtesten Monolog der Weltliteratur
als Grubelei verstanden, die ganz der Melancholie und daher Egozentrik
Hamlets entspringt. Die jungere Shakespeare-Forschung dagegen enttarnte
das schwerwiegende Wort als schlichtes logik-Zitat. Quodlibet est aut
non est --so, heist es bei Melanchthon, habe der Gott es unseren Geistern
als ersten Grundsatz eingepflanzt, und eine kurz vor der Entstehung des
Hamlet erschienene Einfuhrung in die Logik schrieb: To be and
not to be, >>wo das eine von ihnen statthat, ist
das andere ganzlich ausgeschlossen.<< Es ist
der Satz vom Widerspruch, der so aus dem Satz vom Grund (oder: war um uberhaupt
etwas ist und nicht vielmehr nichts) hervorgeht wie die ratio des Denkens
aus der (ultima) ratio des Seins. Was aber Shakespeare daraus macht,
ist ein Argumentieren, das in die Schwebe gerat, eine Vernunftigkeit, die
trotzdem oder deshalb sehr andere Effekte oder kurz: das Desaster zur Folge
hat. Und das ist der Weg, der von der klassischen Logik, wie Hamlet
sie aufgreift, zu jener Lieblingszeile fuhrt, die Alan Turing dem Stück
entnommen hat.
Nicht umsonst spricht Hamlet, wenn er das Wesen des Menschen bedenkt,
nicht von dessen >>Vernunft<<
oderreason allein, sondern zugleich von der >>
Denkungs-Kraft<<, die mehr die Logik in Aktion
bedeutet: discourse.
>>Logische Erzahlungen<<,
heist das bei Plewe, die ULTIMA RATIO so gestaltet hat, das >>Funktionalitaten
und Dysfunktionalitaten<< zutage treten. An
der Oberflache des Hauptmenus gibt es deshalb sogar eine Reasoning Running
Wild- Option. Aber mehr als durch die Art, wie sie Betrachterwunschen
gehorcht, verkorpert die Installation in sich--als Maschine, als Medienkunst--die
Rationalitat, die sich der ratio entzieht, um vielmehr discourse
zu sein.
Denn der Computer ist nicht verdrahtete Logik allein. Oder genauer:
Ihre Verdrahtung schon erganzt die reine Logik um jene Komponente, die
John von Neumann meinte, als er davon sprach, es musten die logischen Operationen
>>a lle in Form von Prozeduren behandelt werden<<.
Die heutige Maschinenwelt hat begonnen, seitdem man nicht mehr nur darauf
sinnt, wie die Folgerichtigkeit logischen Denkens formal abbildbar ware,
sondern wie es sich--mit der wiederkehrenden Formulierung eines George
Boole--als >>operations of the mind in reasoning<<
automatisch (>>We do not originate the constitutions
of our own minds<<, sagt Boole auch) vollzieht.
Darum, hat man inzwischen erkannt, haust immer auch das Unberechenbare
im Rucken jedes und jeden Kalkuls. Und darum--nur darum--macht es inzwischen
auch Sinn, fur die Maschinen zu fragen, was diese denn heist, ihnen >>gleichsam
befiehlt<< (Heidegger), zu denken. Nicht mehr
nur Hamlet, der Mensch, auch die Maschinen sind Zweifler geworden. Nur
das die Maschinen nicht schlafen noch sterben.
The rest is silence.