Hamlet-Maschine
Bernhard J. Dotzler
1999

Hamlet, der Zauderer. Soll er den Konig, Claudius, der seinen Vater ermordet, seine Mutter geheiratet und so den Thron Danemarks an sich gerissen hat-- soll Hamlet diesen Claudius toten? Das Geheis seines Vaters, der ihm als Geist erscheint, ist eindeutig. Ebenso das Gebot der Rache. Aber Shakespeares Drama biegt, wie Carl Schmitt formulierte, die >>Figur des Rachers zu einem durch Reflexionen gehemmten Melancholiker<< um.

Am Ende gibt es der Leichen genug. Neun Tote insgesamt (Hamlets Vater eingerechnet). Vier davon allein im Schlusbild (V.2), von dem berichtet wird, das dessen einzig noch mogliche letzte Regieanweisung: Exeunt, bearing off the bodies, die Lieblingszeile eines Alan Turing gewesen sei. Turings eigene Erfindung, das Grundprinzip aller heutigen Computer, erfolgte im Zeichen Hamlets. Von Planen, >>zuruckgefallen/ Auf der Erfinder Haupt<<, ist dort zuletzt die Rede. Oder vorher schon (III.4): >>Denn welche Lust, mit eigene r Petarde/ Den Ingenieur bedrohn...<< Liegt es also, bevor auf Turings Erfindung zuruckzukommen sein wird, in der Konsequenz von Hamlets Zaudern und Zogern und Zweifeln, das seine Tragodie diese Tragodie ergibt? Und was hatte ein halbes Jahrhundert nach Turing, vier Jahrhunderte nach Shakespeare eine multimediale Installation von heute: ULTIMA RATIO damit zu tun?
 

Wie jeder wirkliche Melancholiker reflektiert Hamlet den Urgrund seines Wesens selbst (IV.4):

Was ist der Mensch,

Wenn seiner Zeit Gewinn, sein hochstes Gut
Nur Schlaf und Essen ist? Ein Vieh nichts weiter.


(Und tatsachlich: Genauso hat Turing einmal gefragt, was ein Mensch wohl sei, solange ihm weiter nichts widerfahren ware, als vom Saugling mit unorganisierter Groshirnrinde zum Erwachsenen mit Universalmaschinengehirn herangewachsen zu sein? Eine >>Kreatur<<, nicht mehr, die >>keinen gesunden Menschenverstand<< besase und selbst >>die lacherlichsten Befehle unerschrocken<< ausfuhren wurde, um anschliesend >>in einen komaahnlichen Zustand<< zu fallen oder >>einige Standardroutinen [zu] befolgen, wie etwa die zu essen<<. Weshalb schon Shakespeare Hamlet fortfahren last:)

Gewis, der uns mit solcher Denkkraft schuf,
Voraus zu schaun und ruckwarts, gab uns nicht
Die Fahigkeit und gottliche Vernunft,
Um ungebraucht in uns zu schimmeln. Nun,
Sei's viehisches Vergessen, oder sei's
Ein banger Zweifel, welcher zu genau
Bedenkt den Ausgang-- ...
.. --ich weis nicht,

Weswegen ich noch lebe, um zu sagen:
>>Dies mus geschehn<<, da ich doch Grund und Willen
Und Kraft und Mittel hab', um es zu tun.


Hatte Hamlet nur unverzuglich gehandelt, ware gewis vieles anders gekommen. Doch Hamlet hat Grunde, den Rache, den Mordbefehl des Gespensts, das ihm als sein Vater erscheint, hinauszuzogern.
Zum einen gilt es zu testen, ob nicht ein boser Geist nur seinen Schabernack mit ihm treibt, ob also der Vorwurf gegen Claudius der Wahrheit entspricht. Dazu inszeniert Hamlet das beruhmte Spiel im Spiel: Spiegel des Verbrechens im Medium, das damals als >>der Spiegel und die abgekurzte Chronik des Zeitalters<< galt, >>the mirror up to nature<<, >>abstract of the time<<.
Zum anderen last oder lies Claudius sich zwar auf diese Weise der Tat uberfuhren, aber wie jedes Verbrechen bedarf auch dessen Ahndung nicht nur des Motivs, sondern zugleich der Gelegenheit. Deren erste erweist sich indes als genaue Inversion der Mordszene. Jemanden toten, hies damals noch, ihn in den Himmel oder die Holle zu befordern, und letzteres ist die besondere Tragik des einstigen Konigs von Danemark, des Vaters von Hamlet. Es hat ihn, konnte man sagen, kalt erwischt (I.5): >>Ohn' Abendmahl und ohne Vorbereitun g/ Ohn' Abschlus hingesandt zur Rechenschaft,/ Mit allen meinen Sunden auf dem Haupt.<< Wie konnte da fur Rache gelten, wenn Hamlet nun den Morder ausgerechnet in gerade der umgekehrten Situation zu Tode brachte? >>Jetzt konnt' ich's tun, bequem<<, sieht Hamlet, da Claudius allein ist, die Gelegenheit gekommen. Jedoch, >>er ist am Beten<< (III.3):

Jetzt konnt' ich's thun, bequem, jetzt da er betet,
Drum will ich's thun; und so fahrt er zum Himmel!
Und so bin ich geracht? Das heischt Erwagung:
Ein Schurke mordet meinen Vater, und
Dafur schick' ich, sein einzger Sohn, den Schurken
Zum Himmel.
Nein das ist Sold und Lohn ist keine Rache.


Hamlet zogert also gerade im Auftrag der Rache. Seine Bedachtsamkeit hat die Vernunft auf ihrer Seite, genauso wie er in deren Namen den ganz und gar Unvernunftigen, den Verruckten spielt. >>Das ich in keiner wahren Tollheit bin,/ Nur toll aus List<< (III.4), erklart er selbst; beinahe sprichwortlichist die Diagnose Polonius' geworden (II.2): >>Ist dies schon Tollheit, hat es doch Methode.<<
 

Wie aber, wenn dennoch--The time is out of joint--eine noch und zumal von dieser Vernunft nicht geahnte Verrucktheit am Werk sein sollte? Und wenn es von daher unaufhaltsam ware, wie das Geschehen entgleist?
ULTIMA RATIO stellt beide Seiten, die Vernunft wie ihren Wahn, auf die Probe. Daniela Alina Plewes Installation realisiert damit die Kunst als-- wie Nelson Goodman es nannte-->>kognitive Erfahrung<<. Ihr Herzstuck ist ein Cognitive Science-Produkt der KI-Forschung, ein sogenanntes Decision Support-System, das etwa jenen Monolog Hamlets auf seine logischen Implikate hin untersucht:

Now might I do it pat, now a' is a-praying--
FACT: PRAYING(CLAUDIUS)

And now I do 't and so a' goes to heaven,
RULE: IN_HEAVEN(Y) <- KILLS(X,Y), PRAYING (Y)

And so am I revenged. That would be scanned:
RULE: TAKE_REVENGE_ON(X,Y) <- KILLS(X,Y)

A villain kills my father, and for that
FACT: KILLED(CLAUDIUS,KING)

I his sole son do this same villain send
To heaven...
Why, this is bait and salary, not revenge.
RULE: - TAKE_REVENGE_ON(X,Y) <-IN_HEAVEN(Y)

 


Auch der Computer kommt so zu dem Ergebnis, das Rachemotiv und Rachegelegenheit sich in dieser Situation widersprechen.

CONFLICT: * <--GOAL_REVENGE(X,Y), NOT TAKE_REVENGE_ON(X,Y)


Aber so gleich das Ergebnis ist, so verschieden ist doch, wie es erreicht wird. Die Logik erscheint als dieselbe. Lediglich der Formalismus, den die Maschine verwendet, tritt in einer Durftigkeit entgegen, der seiner Bezeichnugn als >>abstract<< unmittelbar Plausibilitat beschert. Doch ULTIMA RATIO ist daruber hinaus auch >>abstract<< in jenem Sinn, in dem bei Shakespeare vom Theater die Rede ist: >>abstract of the time<<. Nicht die Formalisierung allein macht den Unterschied. Diese wird im Gegenteil mehr als aufgewogen durch multimediale Spekularitat. Fur den Rezipienten wird der Schematismus dieser maschinellen Vernunft gar nicht unbedingt durchschaubar. Statt dessen umgeben ihn die Stimmen eines text-to-speech- synthetisierten Chors, der im akustisch Realen vortragt, was an Vernunftgrunden geltend gemacht werden kann. Deren Verkettung wird auserdem durch die Knoten und Kanten des ihnen entsprechenden Netzes (berechnet als 3-D-Simulation) visualisiert. Zu sehen ist dazu der Originaltext, und nicht nur der Text, sondern auch noch Kenneth Branaghs Hamlet-Verfilmung, die beides zeigt: Hamlet, der es unterlast, den beten den Claudius zu toten, und Hamlet, der doch die Gelegenheit nutzt. Ferner gibt es Ausschnitte aus anderen Filmen, Casablanca wie Robocop. Und an literaturgeschichtlichem Material beschrankt sich ULTIMA RATIO nicht auf Hamlet allein. Auch Medea, die Nibelungen und Don Juan amplifizieren die Demonstration. >>Asthetische Erfahrung<<, schreibt Plewe dazu, >>ist oftmals die Erfahrung von Widerspruchen. Es sind Dilemmata, Paradoxa oder andere Arten von Ambivalenz, denen wir in Kunstwerken begegnen. Aus der Literatur kennen wir die Figur des Helden, der in einer aporetischen Situation seine tragische Entscheidung zu fallen hat.<<
Das ist die Datenbank von ULTIMA RATIO. Cinemathek und Literaturarchiv. Uber diesen leistet die Installation die Arbeit der Abstraktion, indem sie die Gemeinsamkeit all dieser alten und neuen Mythen auf ihren logischen Kern reduziert. Zugleich prasentiert sie indes ein >>abstract<< der Gegenwart durch ihre gegenlaufige Einkleidung in die Schleier der aktuellen Medienkunst. Mindestens ebenso wie Shakespeares Hamlet adaptiert sie damit Heiner Mullers Hamletmaschine.
>>Ich glaube, mein starkster Impuls ist der, Dinge bis auf ihr Skelett zu reduzieren<<, hat Muller im Nachhinein daruber Auskunft gegeben. >>Ich bin nicht Hamlet... Ich bin die Schreibmaschine... Ich futtere mit meinen Daten die Computer... Ich bin die Datenbank... Meine Gedanken sind Wunden in meinem Gehirn. Mein Gehirn ist eine Narbe. Ich will eine Maschine sein<<--so der Dramentext selber. >>Mich interessierte eine Variante<<, so dann noch einmal spater wiederum Muller.
Alternativen auszutesten ist aber gerade das Angebot sogenannter interaktiver Kunst. Hamlet zogert, Claudius im Augenblick vermeintlicher Nahe zum Himmel ebendahin zu befordern. Wenn nun aber die Moglichkeit bestunde, Hamlet denken zu lassen, das gar kein Himmel existiert? There is no heaven. Hamlet, der Zweifler, wurde auf diese Weise--noch mehr in Zweifel gesturzt, und genau diesen Spielraum eroffnet ULTIMA RATIO: >>Mit change agent konnen die Benutzer die Charaktere beeinflussen, indem sie die Regeln und Annahmen andern, an die der Held glaubt. Change world verandert die Fakten, aus denen das Programm ableitet, und generiert logische Alternativen zu den Original-Szenarien. Remove conflict liefert Vorschlage, wie manche Konflikte vermieden werden konnen, indem andere Annahmen uber die Welt als wahr gelten.<<
Uberhaupt stellt die Arbeit--einmal mehr--den Betrachter scheinbar unumschrankt in den Mittelpunkt. Denn interaktiv ist ULTIMA RATIO auch darin, das sich die Perzeption je aktuell von dessen Blick her bestimmt. >>Ein Eye- bzw. Head-Tracker<<, erklart Plewe, >>registriert die Blickrichtungen des Betrachters. Die Software errechnet den sich bewegenden Fluchtpunkt und verzerrt demnach die Visualisierungen perspektivisch. So wird der Betrachter ganz zum egozentrischen Subjekt, wobei die Gerichtetheit seines Blicks (Kopfs) fur die Intentionalitat des Denkens steht<<: Erstaunliche >>Intentionalitat<<, der eine Maschine entgegenkommt.
 

Immerhin mus man sich fragen, was einen Hamlet heist, sich zu fragen: >>Seyn oder nicht seyn...<<

To be, or not to be, that is the question: --
Whether 'tis nobler in the mind, to suffer
The slings and arrows of outrageous fortune;
Or to take arms against a sea of troubles,
And, by opposing, end them? --To die, --to
sleep, --

 


Lange Zeit hat man diesen beruhmtesten Monolog der Weltliteratur als Grubelei verstanden, die ganz der Melancholie und daher Egozentrik Hamlets entspringt. Die jungere Shakespeare-Forschung dagegen enttarnte das schwerwiegende Wort als schlichtes logik-Zitat. Quodlibet est aut non est --so, heist es bei Melanchthon, habe der Gott es unseren Geistern als ersten Grundsatz eingepflanzt, und eine kurz vor der Entstehung des Hamlet erschienene Einfuhrung in die Logik schrieb: To be and not to be, >>wo das eine von ihnen statthat, ist das andere ganzlich ausgeschlossen.<< Es ist der Satz vom Widerspruch, der so aus dem Satz vom Grund (oder: war um uberhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts) hervorgeht wie die ratio des Denkens aus der (ultima) ratio des Seins. Was aber Shakespeare daraus macht, ist ein Argumentieren, das in die Schwebe gerat, eine Vernunftigkeit, die trotzdem oder deshalb sehr andere Effekte oder kurz: das Desaster zur Folge hat. Und das ist der Weg, der von der klassischen Logik, wie Hamlet sie aufgreift, zu jener Lieblingszeile fuhrt, die Alan Turing dem Stück entnommen hat.

Nicht umsonst spricht Hamlet, wenn er das Wesen des Menschen bedenkt, nicht von dessen >>Vernunft<< oderreason allein, sondern zugleich von der >> Denkungs-Kraft<<, die mehr die Logik in Aktion bedeutet: discourse. >>Logische Erzahlungen<<, heist das bei Plewe, die ULTIMA RATIO so gestaltet hat, das >>Funktionalitaten und Dysfunktionalitaten<< zutage treten. An der Oberflache des Hauptmenus gibt es deshalb sogar eine Reasoning Running Wild- Option. Aber mehr als durch die Art, wie sie Betrachterwunschen gehorcht, verkorpert die Installation in sich--als Maschine, als Medienkunst--die Rationalitat, die sich der ratio entzieht, um vielmehr discourse zu sein.
Denn der Computer ist nicht verdrahtete Logik allein. Oder genauer: Ihre Verdrahtung schon erganzt die reine Logik um jene Komponente, die John von Neumann meinte, als er davon sprach, es musten die logischen Operationen >>a lle in Form von Prozeduren behandelt werden<<. Die heutige Maschinenwelt hat begonnen, seitdem man nicht mehr nur darauf sinnt, wie die Folgerichtigkeit logischen Denkens formal abbildbar ware, sondern wie es sich--mit der wiederkehrenden Formulierung eines George Boole--als >>operations of the mind in reasoning<< automatisch (>>We do not originate the constitutions of our own minds<<, sagt Boole auch) vollzieht. Darum, hat man inzwischen erkannt, haust immer auch das Unberechenbare im Rucken jedes und jeden Kalkuls. Und darum--nur darum--macht es inzwischen auch Sinn, fur die Maschinen zu fragen, was diese denn heist, ihnen >>gleichsam befiehlt<< (Heidegger), zu denken. Nicht mehr nur Hamlet, der Mensch, auch die Maschinen sind Zweifler geworden. Nur das die Maschinen nicht schlafen noch sterben. The rest is silence.